Auf den ersten Blick mag es so scheinen, als wäre es am besten, ein Leben frei von allen Sorgen, Übeln und Gefahren anzustreben und es dabei so angenehm wie möglich zu haben. Doch ist das wirklich so? Ist das angenehmste Leben immer das Beste?
Zwar brauchen wir in unserem Leben immer ein gewisses Maß an Sicherheit, um es uns möglichst lange zu erhalten und uns nicht ständig mit seinem bloßen Erhalt beschäftigen zu müssen. Treiben wir dies jedoch auf die Spitze und versuchen zu maximieren, was wir eigentlich nur im Mindestmaß brauchen, erstickt unser Leben darunter. Die Gefahr der Gefahrlosigkeit besteht darin, dass das Leben für uns seinen Reiz verliert und wir damit unsere Vitalität.
Denn wo unser Leben vor allen Gefahren sicher ist, vernachlässigen wir dessen Erhalt und damit zugleich den sorgfältigen Umgang mit den Dingen, die nicht nur unser Leben erhalten, sondern auch dessen Qualität bestimmen.
Genauso wie wir aber vergessen, was wir in der Hand haben, um unser Leben zu bestimmen, vergessen wir auch, was wir gerade nicht in unserer Hand haben. Je mehr wir vor der Realität und deren Bedrohungen für unser Überleben abgesichert sind, umso weniger beachten wir sie und ihren Einfluss auf unser Leben.
Wir übersehen außerdem die Vergänglichkeit unseres Lebens und damit die ihm und jedem seiner Momente angemessene Wertschätzung und Dankbarkeit.
Ein Leben frei von allen Beeinträchtigungen ist zudem ein Leben in ewiger Gegenwart. Denn wo uns aus der Vergangenheit nichts mehr beschäftigt und aus der Zukunft nichts mehr droht, gibt es für uns kaum noch einen Grund, deren Existenz ernstzunehmen.
Und doch, obwohl wir so immer in der Gegenwart leben, werden wir dadurch nicht gegenwärtiger. Denn jede Gegenwärtigkeit beruht immer auf Geistesgegenwart. Unsere Geistesgegenwart aber ist an die Aktivierung durch unsere Instinkte gebunden, während unsere Instinkte, die sich zum Zweck des Überlebens entwickelt haben, nur solange wach bleiben, wie sie dafür auch noch erforderlich sind. Mit unseren Instinkten, verlieren wir auch unsere Lebenskraft, unseren Lebenswillen und unseren Scharfsinn, ganz einfach deshalb, weil wir sie nicht mehr brauchen.
Aber nicht nur unsere Instinkte sind an ihre Bedeutung für unser Überleben gebunden. Was für sie gilt, gilt allgemein auch für alles andere.Je mehr wir uns gegen eine Sache absichern, umso weniger Gründe haben wir noch, uns um sie zu kümmern und umso mehr verlieren wir sowohl die dafür erforderlichen Fähigkeiten, als auch die Vorteile, die aus deren Gebrauch erwachsen. Ist das Überleben garantiert, gibt es für uns keinen Grund mehr, uns zu dessen Zweck um unser Leben zu kümmern.
Dasselbe gilt für unsere Wünsche, Bedürfnisse und Ambitionen. Der Nutzen all dieser Dinge für unsere Lebensqualität, liegt in der Herausforderung, die sie mit sich bringen, was sie uns so abverlangen und das Wachstum, das auf diesem Weg angeregt wird. Qualität ist schließlich nicht ohne Qualen zu haben und die sind wir nur bereit auf uns zu nehmen, wenn wir damit etwas erreichen oder bekommen können, was wir wollen oder brauchen. Haben wir aber schon alles sicher, was wir brauchen oder wollen können, gibt es für uns auch keinen Grund mehr, uns selbst zu überwinden. Wir stagnieren erst und werden dann auch noch zwangsläufig degenerieren.
Sich von sinnloser Plackerei und unbeherrschbarer Gefahr zu befreien ist eine Sache, sich komplett von jeder Arbeit und Gefahr befreien zu wollen eine ganz andere. Ersteres setzt Zeit und Kräfte frei um sich den wirklich wichtigen Herausforderungen des Lebens zu widmen. Letzteres zieht unseren Kräften mit deren Existenzberechtigung den Boden unter den Füßen weg und führt mit der Zeit nur dazu, dass wir uns in Abwesenheit echter Probleme selber zum Problem werden.
Gefahr konfrontiert uns mit der Endlichkeit unseres Lebens. Und diese Endlichkeit erst verleiht ihm und seinen einzelnen Momenten ihren Wert.
Die Gefahr verleiht uns auch Bodenhaftung. Wir werden durch ihr mit unserer Verletzlichkeit, unserer Abhängigkeit und letztlich mit unseren Grenzen überhaupt konfrontiert. Das macht uns bescheiden und realistisch. Wir sehen nun bei dem, was wir wollen und brauchen, nicht einfach nur, was uns dabei im Weg steht, was es erfordert, sondern auch, was dabei schiefgehen könnte oder sogar grundsätzlich falsch ist. Wir fragen uns so nicht mehr nur, ob wir etwas tun können, sondern ob wir es auch wirklich tun sollten.
Das allgemeine Prinzip ist also folgendes: Was wir nicht mehr brauchen, werden wir auch nicht mehr gebrauchen, und was wir nicht mehr gebrauchen, vernachlässigen und verlieren wir schließlich.
„Use it or lose it“. Je leichter und sicherer wir unser Leben machen, umso mehr befreien wir uns von dem Druck, der uns dazu bringt, das zu gebrauchen, was uns und unsere Lebensqualität ausmacht. Wir werden dann schwach, dumm, lethargisch, apathisch und schließlich auch miserabel. Deshalb sollten wir uns nie ganz von unseren Widrigkeiten befreien, sondern nur da, wo wir gar nicht, suboptimal oder falsch herausgefordert werden.
Wenn wir gefährlich leben, kann es natürlich auch dazu kommen, dass wir mit der Gefahr auch einmal nicht umgehen können und womöglich ernsthaft körperlich und/oder seelisch zu Schaden kommen. Das ist aber noch lange kein Grund zur Verzweiflung.
Von den meisten Verletzungen erholt man sich mit der Zeit und wenn man es getan hat, ist man nachher meistens immer ein wenig stärker- oder zumindest weiser – geworden. Wo uns das Leben sogar bricht, da haben wir, auch wenn wir uns wieder aufbauen müssen, zumindest immer noch die Möglichkeit, uns anders und damit auch besser wieder neu aufzubauen.
Man spricht nicht umsonst von posttraumatischem Wachstum. Manches Wachstum braucht sogar das Trauma. Oft kann man sich vom Alten nicht lösen, bis man daran zerbricht, etwas Neues nicht aufbauen oder finden, bis man das Alte verloren hat.
Und selbst wenn all dies uns verwehrt bleibt, haben wir durch unsere schlechten Erfahrungen immer noch zumindest einen Standpunkt gewonnen, von dem aus wir alle neuen Erfahrungen einloten können. Was uns von da an an Schlechtem begegnet und widerfährt, wird uns schwerer überraschen, schockieren und beängstigen können. Je schlimmer die Erfahrung, umso weniger schlimm ist dann alles andere für uns und umso mehr werden wir das Gute zu schätzen wissen. Schließlich wirkt nichts unser natürlichen Tendenz das Negative zu überschätzen, so effektiv entgegen, wie es tatsächlich einmal erfahren zu haben.
Damit soll nicht gesagt sein, dass wir uns einfach so vielen Gefahren wie möglich aussetzen, oder uns immer soweit wie möglich in Gefahr bringen lassen sollten. Wir sollten so leben, dass wir mit der Gefahr zu rechnen und umzugehen haben, sollten dann aber auch mit ihr rechnen und umgehen, nicht jedoch suizidial oder fahrlässig dabei sein.
Wir sollten die Gefahr dadurch konfrontieren, dass wir uns sinnvolle Tätigkeiten suchen, die sie als ein inhärentes Risiko beinhalten, welches nicht umsonst und nicht blind in Kauf genommen wird.
Tun wir das, so kann die Gefahr von unserem Feind zu unserem Lehrmeister werden. Sie bringt uns wichtige Lektionen bei, rüttelt uns wach, regt uns zum Wachstum an und lässt uns das, was wir haben, besser schätzen.