Diese Frage muss man, wie so viele andere auch, vor ihrer Beantwortung erst einmal wieder vom Kopf auf die Füße stellen. Die eigentliche Frage ist also hier nicht „Warum?“, sondern „Warum nicht?“.
Warum also sollte man nicht böse sein? Was spricht dagegen, wenn es sich für einen lohnt, die Beschränkungen der Moral hinter sich zu lassen und skrupellos nur nach dem eigenen Vorteil zu streben? Man muss dabei nicht einmal böswillig sein, um Böses zu tun. Es reicht vollständig es gleichgültig als Nebenwirkung hervorzurufen. Man ist ja nur selten nur wirkiche böse um des Bösen willen, sondern weil man sich davon einen Vorteil erhofft.
Sind wir nicht alle, trotz aller bei normaler seelischer und geistiger Gesundheit vorhandenen Hemmungen der Empathie und des Gewissens, schon einmal in die Versuchung geraten, Böses zu tun? Kam es nicht davon, dass wir erwarteten und wussten, dass es sich gut anfühlen oder Vorteile erbringen würde? Wie können wir dann unterstellen, dass jede Übeltat immer aus Verwirrung oder Notgedrungenheit entstanden sein muss und deshalb einer besonderen Erklärung bedarf?
Wie können wir also so jedem Bösen unterstellen, dass es nur als tragisches Resultat eines unabwendbaren Schicksals geschehen konnte und nicht aus einer oft an vollkommen banalen Gründen orientierten Entscheidung heraus zu der wir genau so in der Lage gewesen wären, hätten unsere Hemmungen uns nicht davon abgehalten?
Am Ende tun die Menschen das Böse doch fast immer aus einem ganz einfachen Grund: Weil es sich lohnt (oder weil man erwartet, dass es sich lohnt). Würde uns unsere eigene Natur nicht durch innere Hemmungen und schlechte Gefühle davon abhalten und die Gesellschaft nicht durch die negativen Konsequenzen der Bestrafung, würden wir es wahrscheinlich ebenso begehen. Und wären wir nicht emotional und praktisch aufeinander angewiesen, so hätten sich die Hemmungen und Regelungen dagegen wahrscheinlich gar nicht erst entwickelt.
Das Böse im Menschen ist also genauso normal und natürlich wie der Schimmel auf dem Brot. Es kommt stets von alleine und ist nicht annähernd so mysteriös, wie wir es gerne hätten, und wird am besten dadurch bekämpft, dass man ihm seine Entstehungsgrundlage entzieht und es, wenn es entsteht, herausschneidet und vernichtet.
Wenn die Ursachen für das Böse aber so banal und universell sind, woher kommt nun das Bedürfnis, das Böse zu „erklären“, wo es doch eigentlich nicht allzu viel zu erklären gibt?
Weil wir genau die einfache Wahrheit, dass es sich eben gerade deshalb so hartnäckig hält, weil es sich so oft auch lohnt, nicht akzeptieren wollen. Denn was würde das bedeuten? Dass die Bösen stets im Vorteil sind, dass es immer Grund zum Bösen geben wird und man es nie ganz aus der Welt schaffen kann, dass man böse Menschen kaum ändern oder therapieren kann und man sie konfrontieren muss, dass wir dem Bösen oft selber näher sind, als wir es zugeben wollen, dass man sich als (potentielles) Opfer in seiner persönlichen Bedeutung verletzt fühlen muss, wenn das eigene Leid oft nur eine banale Nebensache ist, und nicht zuletzt dass man der Willkür hinter dem Bösen gegenüber ohnmächtig ist.
Zu dieser Unfähigkeit, der harten Realität hinter der hartnäckigen Existenz des Bösen in der Welt und im Menschen, ins Auge zu sehen, kommen dann noch all die Neurosen, Macken und Hintergedanken, welche den Typus des professionellen Menschenverstehers und Welterklärers, ob als Guru, Therapeut, Selbsthilfecoach, öffentlicher Intellektueller oder Aktivist, auszeichnen und ihn so oft zur Verklärung des Bösen wie harter Realitäten allgemein bewegen. Das Böse muss hier leider allzu oft als Projektionsfläche herhalten, auf der ersatzweise persönliche und soziale Probleme gelöst werden sollen, indem sie für das Böse verantwortlich gemacht werden, in dessen Erklärung man nur das eigene Weltbild bestätigen und propagieren will und dessen Lösung nicht ohne eigennütziges Kalkül beworben wird.
Besser wäre es aber, wir würden uns folgende einfache Wahrheit in Erinnerung behalten: Gelegenheit macht Diebe, wie es auch überhaupt das Böse macht. Es ist in den meisten Fällen eine Mischung aus Opportunismus und Hemmungslosigkeit und nur selten wirklich entweder notgedrungen oder rein böswillig. Will man das Böse bekämpfen, so muss man die Gelegenheit dazu nehmen.
Gründe braucht es nicht zum Bösen, sondern dagegen. Diese können einem aus dem eigenen Inneren durch Gewissen und Empathie, oder aus der Außenwelt durch Strafe, Reputationsverlust und Nutzeneinbüßen gegeben werden. Wem aber die Kapazität zu Ersterem und/oder die Einsicht in Letztere fehlt, der wird dadurch auch nicht vom Bösen abzuhalten sein.
Das Böse zu bekämpfen ist also hauptsächlich eine strukturelle Frage und keine therapeutische. Statt die Entscheidung zum Bösen, sollten wir die Gründe in den dafür bzw. dagegen sprechenden Anreizen anvisieren und besser noch die Möglichkeiten dazu komplett zu entfernen. Oder mit anderen Worten: Gute Zäune machen gute Nachbarn (mehr als bloße nette Worte es jemals könnten).