Die Indianer glauben angeblich, dass sich ein Foto von einem anderen Mensch zu machen, der Versuch ist, seine Seele zu stehlen. Die spannende Frage ist hier natürlich nicht, ob diese Annahme der Wahrheit entspricht, sondern aus welchem Grund man auf sie kommen könnte.
Wie so oft ist hier hinter einer offensichtlichen Falschheit eine tiefere Wahrheit verborgen, die im Aberglauben ihren symbolischen Ausdruck findet. Deshalb auch lohnt es sich zu fragen, was die eigentliche Bedeutung des Aberglaubens ist.
Was bedeutet es, dass man seine Seele an Bilder von sich verlieren kann? Kann man das auch, wenn man sich von sich selber ein Bild macht? Was bedeutet hier Seele und was die Bilder davon?
Hier hilft es, einen weiteren Mythos zu Rate zu ziehen: Die Legende des Narzissus, erzählt von einem bildschönen jungen Mann, der sich in sein eigenes auf der Wasseroberfläche gespiegeltes Bild verliebt und, je nach Ausführung des Mythos, dann daran zu Grunde geht, dass er sich diesem nähern will und ertrinkt oder dass er dahinschwindet, weil er sich seinen eigentlichen Bedürfnissen nicht mehr widmet.
Wir können also zumindest unser Wohlbefinden an Bilder von uns selber verlieren, nämlich an unser Spiegelbild.
Unser Spiegelbild kann im allgemeinen Sinne aber viel mehr als einfach nur ein visuelles Abbild von uns sein. Unser Spiegelbild sind all die Bilder, in denen wir uns spiegeln, also die Bilder in denen wir uns wiedererkennen und mit denen wir uns identifizieren, ob es sich nun um unser Bild von uns selber, unser Bild vom Bild anderer von uns selber oder um Bilder, mit denen wir uns nur im übertragenen Sinne identifizieren, handelt.
Jeder Eindruck, den wir bekommen, in dem wir meinen uns wiedererkennen zu können und mit dem wir uns dann identifizieren, kann uns unserer Seele und unseres Wohlbefindens berauben. Ersteres dadurch, dass wir unser Selbst dadurch, dass wir es vergessen, auch verlieren, uns nicht mehr selber wahrnehmen und so auch nicht mehr selber beherrschen können; Letzteres dadurch, dass wir durch unsere Selbstvergessenheit unsere realen Bedürfnisse vergessen und somit vernachlässigen, sowie allgemein nicht mehr darauf achten, was uns wirklich gut tut und was uns schaden könnte.
Und was Narzissus das Wasser ist, das sind uns die Welt und unsere Mitmenschen. Was sie uns über uns sagen bzw. was wir denken, dass sie uns sagen, ist uns unser Spiegel aus dem wir unsere Vorstellung davon, wer wir sind, ableiten.
Nur ist dieser Spiegel gerade nicht wie ein echter Spiegel, sonder eher wie ein Zerrspiegel. Einerseits wird uns hier ohnehin selten ein wirklich akkurates Bild von uns gegeben. Andererseits sehen wir dieses selber auch nicht so, wie es uns gegeben wird. Schließlich erkennen wir oft nur das, was wir auch anerkennen können, blenden unangenehme und unerwünschte Eindrücke aus und dichten auch noch gerne hinzu, was wir sehen wollen. Es findet eine doppelte Verzerrung statt. Darüber hinaus können wir uns natürlich auch immer ganz einfach nur irren.
Die Gefahr liegt hier also einerseits darin, dass wir uns selbst vergessen, verlieren und vernachlässigen, wenn wir glauben, wir seien das Spiegelbild und andererseits, dass wir ein verzerrtes Bild von uns bekommen, wenn wir glauben, wir seien so wie unser Spiegelbild.
An dem Punkt dann, wo wir uns nicht nur mit dem (Zerr-)Spiegelbild verwechseln und identifizieren, sondern auch dessen Stellung einnehmen, ja geradezu zu ihm werden, verlieren wir unsere Seele an das, was uns spiegelt bzw. worin wir uns selber bespiegeln. Und wo das, was uns spiegelt, andere Menschen sind, verlieren wir unsere Seele an diese. Ob uns unsere Seele hier bewusst gestohlen wird oder nicht, in jedem Fall liegt der Kern des Problems darin, dass wir sie auf- und damit auch abgegeben haben.
Wenn man sich mit dem Eindruck deffiniert, den man denkt auf andere zu machen, dann bestimmen diese letztendlich, wer man denkt, dass man ist. Sie tun es entweder automatisch und unbewusst, oder bewusst und kalkuliert, in dem sie uns genau das Bild von uns selber spiegeln, zu dem sie uns machen wollen. Wenn man dazu noch denkt, dass sich unser Selbst in den Bildern von uns -welcher Art auch immer- erschöpft, ist der Verlust der eigenen Seele vollkommen.
Wo sich aber alle gegenseitig als das Bild sehen, von dem sie jeweils meinen, dass die Anderen es von ihnen haben, da haben alle ihre Seele aneinander verloren und doch keiner etwas dabei gewonnen.
Alle haben sich gegenseitig bestohlen, aber am Ende doch nur sich selber beraubt. Wo keiner mehr seine eigene Seele besitzt, da kann er auch nicht die Seele eines Anderen für sich nehmen, auch wenn dieser sie aufgegeben hat. Denn wer nicht sein eigener Herr ist, der kann auch niemals wirklich das haben, was er anderen abnimmt.
Denn schließlich sind wir ja nicht unser Spiegelbild und auch der Teil von uns, der danach trachtet, dass wir uns in der Welt und in unseren Mitmenschen spiegeln, eben nur ein Teil und nicht unsere gesamte Persönlichkeit.
Wir sind das was sieht, nicht das was gesehen wird. Wir sind das Auge, dass sich nie selber betrachten kann. Deshalb versuchen wir uns selber durch die Augen der Welt und anderer Menschen hindurch zu betrachten. Dabei können wir aber immer nur ein Abbild von uns bekommen und dazu noch eines das sehr unzuverlässig und immer mehr oder weniger verzerrt ist. Wo wir aber glauben, dass wir das sind, was gesehen wird, geben wir dem, was uns sieht, die Macht über uns und verlieren zugleich jegliche wahre Sicht auf uns selber und auch auf das, was uns sieht.
So macht einen wohl nichts so sehr zum Sklave der Welt und anderer Menschen, als von ihnen das zu bekommen, was wir am meisten von ihnen begehren -die vermeintliche Bestätigung, wir wären so, wie wir uns gerne sehen würden.