Wenn man über ein Verhalten oder eine Situation urteilt, sollte man sich immer fragen, wie man dies tun würde, wenn es einen selber oder eine Person die einem nahesteht, betreffen würde. So vermeiden wir, anderen das zuzumuten, was wir weder uns noch unseren Angehörigen zumuten würden. Warum auch sollte ich einem Mann zumuten, was ich bei meinem Bruder, Vater, Sohn oder Freund niemals tolerieren würde, oder einer Frau, was genauso meine Tochter, Mutter, Schwester oder Freundin betreffen könnte.
Wenn mir ein anderer doch nicht nahesteht, so wird er für mich dadurch ja nur zu einem Fremden, nicht aber automatisch zu einem anderen Menschen. Warum also sollte ich ihn nach einem anderen Maßstab bewerten, wo ich doch nicht einmal weiß, wie er wirklich ist. Und ist er nicht auch jemand, der, wenn nicht mir, doch einem anderen am Herzen liegt? Ist er nicht auch für irgendwen Sohn, Bruder, Vater oder Freund, auch wenn er nicht der meine ist, bzw. Tochter, Schwester, Mutter oder Freundin, auch wenn sie nicht die meine ist? Und hat er nicht auch wiederum Menschen, die ihm am Herzen liegen, so wie mir die meinigen? Hat er nicht auch Kinder, Geschwister, Eltern und Freunde? So liegt doch jeder irgendwem am Herzen und hat auch selber diejenigen, die ihm am Herzen liegen. Warum dann sollte ich eines anderen Bruder zumuten, was ich meinem niemals antun würde? Warum eines anderen Tochter zumuten, was ich meiner niemals geschehen lassen würde?
Wir Menschen sind nicht alle gleich, genauso bedeuten uns auch alle Menschen nicht gleich viel. In einer Hinsicht sind wir es jedoch, in unseren universellen moralischen Obligationen zueinander.
Wir sollten alle danach streben, andere so zu behandeln, wie sie uns behandeln, ihnen nicht das anzutun, was wir selber nicht erleiden wollen und ihnen nicht geschehen lassen, was wir unseren Angehörigen niemals zumuten würden. Soviel sollte vom Prinzip her klar sein.
Dies sind die drei universellen Maximen der Moral: der kategorische Imperativ, die goldene Regel, Reziprozität, die silberne Regel und Solidarität, die bronzene Regel.
Jedoch können wir das praktisch nicht für alle und auch nicht im gleichen Ausmaß umsetzen. Das mag bedauerlich anmuten. Allerdings sollten wir dabei bedenken, dass der selbe Einfluss, mit dem man anderen helfen kann, genauso gut benutzt werden kann, um ihnen zu schaden. Dass wir nicht allen helfen können, bedeutet also auch, dass keiner von uns allen anderen schaden kann. Wir können aber nicht nur nicht allen helfen und auch nicht allen im selben Ausmaß, sonder immer denjenigen am meisten, die uns am nächsten stehen.
Wir können und sollten uns also immer zuerst und am meisten um die kümmern, die uns am nächsten stehen. Denn für sie können wir am meisten tun und auch am meisten im Gegenzug erwarten und somit jene Bindungen und Beziehungen zu ihnen aufbauen, die Liebe von bloßer Wohlfahrt unterscheiden. Schließlich ist Liebe keine bloße Transaktion von Begünstigungen. Dies ist nur ein Teil von ihr und wird auch nicht von alleine, sondern durch gegenseitige Fürsorge aufrecht erhalten.
Die Liebe geht dem voraus, was wir füreinander tun, ist aber dennoch darauf angewiesen. Sie ist sozusagen Altruismus auf Kredit. Je mehr wir jemanden lieben, umso mehr sind wir bereit, für ihn, oder manchmal auch von ihm, in Kauf zu nehmen. Wird dies jedoch nicht erwidert, oder sogar ausgenutzt, findet die Liebe früher oder später ihr Ende. Deshalb kann sie sich nur dort wirklich halten, wo man sich nahe genug steht, so dass Erwiderung zuverlässig gegeben und erwidert werden kann.
Weder müssen, noch sollten wir also alle (gleich) lieben. Wir sollten ihnen aber die selbe Liebe zu anderen zugestehen, die wir uns für die Unseren herausnehmen. Alles andere wäre nur Heuchelei. Niemand hat ein Recht darauf, von jemand anderem etwas zu beanspruchen, aber jeder eines darauf nicht beansprucht, also berücksichtigt, zu werden. Man muss nicht jedem helfen, aber sollte jeden in Frieden lassen. Nächstenliebe sollte immer allen zugestanden, aber eben nur den Nächsten gegeben werden. Und wo jeder Mensch andere Menschen hat, die ihm nahestehen und solche, denen er selber nahesteht, ist damit auch für alle gesorgt.