Um diese Frage zu beantworten, muss man sich zuerst fragen, welchen praktischen Wert die Wahrheit an sich, das Streben nach ihr und das Leben im Einklang mit ihr hat. Denn Pragmatismus ist letztendlich eben der Verzicht – nicht aber die Ablehnung – im Bezug darauf.
Ein Pragmatist muss kein Relativist sein, er muss aber auch kein Realist sein. Pragmatismus verschiebt die Frage nach der Wahrheit einfach vom Bereich der Erkenntnis in den der Taten. „Wahr“ sind für den Pragmatist die Ansichten, die sich darin bewähren, uns also bei ihrer Befolgung – wie auch immer diese aussehen mag – gewünschte oder doch zumindest wünschenswerte Resultate bringen. Darin ist durchaus ein Kern von Wahrheit enthalten: Denn über pragmatistisches Denken lässt sich die Frage beantworten, was wir denn zu welchem Zweck für wahr halten sollten.
Der Trugschluss besteht nur darin, nicht zu akzeptieren, dass eben das, was wir für wahr halten sollten, weil es uns so zu gelungenem Handeln führt, nicht unbedingt das sein muss, was wirklich wahr ist, genauso wie es umgekehrt auch Wahrheiten geben kann, die eben nicht hilfreich, sondern belastend oder sogar zerstörerisch sein können.
Deshalb stellt sich eben auch für den Pragmatismus selber folgende Frage: Wie pragmatisch ist dieser Trugschluss? Wie viel Sinn macht es, das für wahr zu halten, was sich nur in der Anleitung unseres Handelns bewährt?
Pragmatismus hat in dieser Frage einen gewaltigen blinden Fleck. Schließlich betrachtet er nur kurzfristig und nur im Einzelfall, ob es sich lohnt, die Wahrheit anzuerkennen und nach ihr zu streben.
Der Zusammenhang zwischen Wahrheit und praktischem Nutzen ist allerdings wesentlich komplexer. Manchmal kann es anfänglich nicht nutzen oder sogar schaden, eine unbequeme Wahrheit anzuerkennen, langfristig aber schlimmere Probleme vermeiden. Manchmal muss man vorerst unnütze und belastende Wahrheiten eine nach der anderen anerkennen, bis sie sich schließlich zusammenfügen und auch ihren Nutzen entfalten können. Manchmal mag es Sinn machen, im Einzelfall die Wahrheit dem Nutzen gemäß zu verbiegen, wird dies jedoch zur Gewohnheit, verliert man jeden Halt und zieht sich selber den Boden unter den Füßen weg. Alle diese Verstrickungen sind dem Pragmatismus inhärent.
Darüber hinaus entgeht dem reinen Pragmatismus, neben dem oben bereits erwähnten Nutzen der Wahrheit, auch der des Strebens nach ihr und des Lebens im Einklang mit ihr. Davon ist nur ersteres mit dem Pragmatismus überhaupt verträglich und auch nur dann, wenn die Wahrheit im Zweifelsfall Priorität über den Nutzen hat. Denn das Streben nach Wahrheit und das Leben im Einklang mit ihr sind inhärent unpragmatische Tätigkeiten.
Das Streben nach Wahrheit ist dabei so weit vereinbar mit dem Pragmatismus, wie es als Tätigkeit einen praktischen Nutzen hat und zu praktisch nützlichen Wahrheiten führt. Unser Streben nach Wahrheit, kann also durchaus einen Nutzen haben. Wir dürfen es jedoch niemals um dieses Nutzens willen tun. Denn so pragmatisch das Streben nach Wahrheit auch sein mag, man tut es doch nicht aus pragmatischen Erwägungen, sondern aus intrinsischer Motivation; sonst wäre es ja kein Streben nach der Wahrheit mehr. Würden wir nach der Wahrheit um ihres Nutzens willen streben, würde unser Streben nach ihr seinen Nutzen und auch schließlich seinen Antrieb verlieren.
Das Streben nach Wahrheit kann also durch Pragmatismus unterstützt, aber nicht motiviert und angetrieben werden. Alle pragmatischen Erwägungen sind hier immer nur Nachgedanken, auch wenn sie als solche nicht ohne Wirkung sind.
Das Leben im Einklang mit der Wahrheit wiederum ist allerdings eine völlig andere Gelegenheit. Im Einklang mit der Wahrheit zu leben bedeutet nicht nur, sich der Wahrheit nähern zu wollen, sondern v.a. auch sie ernst zu nehmen. Was man einmal als wahr erkannt hat, hat immer gewisse Implikationen und fordert seinen Tribut in Form von Anerkennung und Berücksichtigung ein. Lebt man im Einklang mit der Wahrheit, reicht es eben nicht, sie einfach nur zu wissen. Man muss sie auch befolgen. Und dieser Imperativ der Wahrheit schneidet sich dabei mit der Domäne des Handelns, welche dem Pragmatismus angehört und macht ihm dort seine seine Vormachtstellung streitig. Zwar muss es hier auch nicht immer zum Konflikt zwischen Wahrheitsliebe und Pragmatismus kommen, jedoch kann der Pragmatismus diesem nicht mehr ausweichen und muss in jedem Fall unterliegen.
Worin genau liegen aber nun die Vorteile darin, nach der Wahrheit zu streben und im Einklang mit ihr zu leben? Im Verlauf des Strebens nach Wahrheit müssen wir uns zwar vielen Mühen und Gefahren stellen, erfahren aber dafür ein stetiges Wachstum an Wissen, Verstand, Erfahrung und Charakter. Die Hürden, denen wir uns dabei stellen müssen, bleiben in ihrer Schwierigkeit dabei weitestgehend gleich, während sich die Gewinne des oben erwähnten Wachstums hingegen mit der Zeit akkumulieren und diese somit zwangsläufig überwiegen müssen.
Das Streben nach Wahrheit erfordert von uns in letzter Konsequenz, der Wahrheitsliebe gemäß, auch im Einklang mit der Wahrheit zu leben, und damit Wahrhaftigkeit.
Dabei muss unser Streben nach Wahrheit zu allererst ein Streben nach Wahrheit im Umgang mit uns selber sein, weil wir uns nur so versichern können, ihm und auch uns selber auf Dauer wirklich treu zu bleiben. Tun wir das, so gewinnen wir dabei eine besondere und entscheidende Form von Wahrheit: Selbsterkenntnis.
Wer das Streben nach Wahrheit über sich selber stellen kann, wird sich selber erkennen. Und nur wer sich selber erkannt hat, kann sich auch selbst beherrschen. Und erst wer sich selbst beherrschen kann, der ist auch frei.
So versetzt uns das Streben nach Wahrheit durch die Selbsterkenntnis, die es mit sich bringt, überhaupt erst in die Lage, wirklich pragmatisch in unserem eigenen Sinne handeln zu können.