Was macht uns ehrlich?

Nur drei Dinge machen den Menschen wirklich ehrlich: Wut, Verzweiflung und Alkohol. Alkohol macht uns ehrlich, indem er uns unsere Hemmungen nimmt und uns die Gründe für diese vergessen macht. Aber genau genommen ist der Alkoholiker im Rausch nicht wirklich vollständig ehrlich, sondern nur authentisch bzw. spontan. Man lebt im Rausch zwar momentane und unterdrückte Impulse aus und gibt auch ansonsten zurückgehaltene Meinungen von sich, diese müssen aber nicht vollständig oder im Kern wirklich repräsentieren, was wir denken und wer wir sind.

Wahrer Ehrlichkeit bringen uns hingegen Wut und Verzweiflung wesentlich näher. Wut bringt uns zur Ehrlichkeit über das, was wir wollen und was uns wichtig ist sowie wie wir die Umstände im Bezug darauf sehen. Wut erlaubt uns also einen ehrlichen Blick auf uns selber, während Verzweiflung uns einen ehrlichen Blick auf die Welt ermöglicht.

Im Tunnelblick der Wut treten die Konsequenzen, die unsere Worte und Taten für uns selber und andere haben, in den Schatten des Objekts unserer Wut, das wir zu verändern, zu verteidigen oder zu überwinden suchen. Die Wahrheit, die dabei zu Tage tritt, ist die unserer Abneigungen, unserer Frustrationen, unserer Beschwerden und allem, was uns sonst noch irgendwie negativ belastet. Implizit sind darin dann auch immer unsere Werte und die Objekte unserer Sorge enthalten, die wir dadurch verteidigen, oder bisweilen auch durchsetzen wollen. Wut sagt uns also, was uns stört und damit auch indirekt, was wir wollen und was uns wichtig ist. Denn schließlich können uns Dinge immer nur deshalb stören, weil sie bedrohen, was wir wollen und was uns wichtig ist.

Verzweiflung macht uns ähnlich wie die Wut deshalb ehrlich, weil sie uns dazu bringt, jegliches Kalkül über den Nutzen oder die Gefahren von Ehrlichkeit zu vergessen. Nur treten die Gründe für unsere Zurückhaltung gegenüber der Ehrlichkeit dabei alle auf einmal und nicht mehrheitlich, auf Kosten einiger weniger aber wichtigerer, zurück – wie es bei der Wut der Fall ist.

Wer sieht, dass er durch Ehrlichkeit nichts mehr zu verlieren und durch Lügen auch nichts mehr zu gewinnen hat – ob es nun wirklich so ist oder nicht -, hat eigentlich keinen Grund, unehrlich zu sein, oder zu schweigen.

Das ist auch der Grund, warum man alten Menschen eine höhere Weisheit nachsagt. Die Jugend hat noch auf ein ganzes Leben vor sich zu schauen, wobei für sie entsprechend viel auf dem Spiel steht, und wird es deshalb schwer haben, vor sich oder vor anderen einzugestehen, was ihre Aussichten gefährdet. Die Alten aber haben sich darum weniger zu sorgen, weil sie einfach weniger zu verlieren und zu gewinnen haben.

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