Jeder Versuch aus Menschen eine Herde von Schafen machen zu wollen, kann in der Wirklichkeit immer nur darin resultieren eine Grube von Schlangen zu schaffen.
Denn dort, wo sich jeder offene Ausdruck und jede direkte Auslebung von Aggression (sowie bei allen anderen Trieben auch) einfach verbietet, drängt es sie in Wirklichkeit immer nur in den Hintergrund, von dem aus sie dann in verdeckten und indirekten Bahnen weiterwirken, während sich über das Ganze dazu noch der Schleier einer selbstverständlich genommenen Überwindung der Aggression legt.
Denn schließlich streiten die Menschen sich untereinander nicht einfach aus Spaß an der Freude der ganzen Sache -obwohl es das auch gibt- sondern meistens, weil sie ausserhalb und vor dem Konflikt liegende Gründe dafür haben, die in einer endlichen und bestimmten Welt unvermeidbar sind und zu Konkurrenz- und Differenzkonflikten führen müssen.
Es wird immer der eine haben was der andere will (Konkurrenz) oder wollen was ein anderer wieder nicht will (Differenz), wobei sich keine für beide maximal zufrieden stellende Lösung finden lässt und ein Kompromiss immer ein Verlust für einen oder beide ist. Und wenn diesen Kompromiss nicht hinzunehmen für einen oder mehrere Beteiligte mehr Aussicht an Gewinn als auf Verlust im Konflikt bedeutet, so ist dieser entsprechend vorprogrammiert.
Die Ursache für Konflikte liegt also nicht immer im Menschen selber, sondern darin dass er für ihn als eine lohnende oder sogar notwendige Option im Raum steht. Gelegenheit macht nicht nur Diebe, sie macht auch Konflikte, genauso wie sie Lügen, Heuchelei, Verrat, Betrug und alle sonstigen Formen antisozialen Verhaltens hervorbringt.
Denn das meiste antisoziale Verhalten offenbart sich bei genauerer Untersuchung in Wahrheit als sozial parasitäres Verhalten, welches nicht durch Boswilligkeit sondern durch subjektive und objektive Gewinnaussichten motiviert ist.
Das ist nicht zuletzt auch deshalb der Fall, weil wir Menschen grundlegend statusorientiert sind und deshalb nicht nur absolute sondern auch relative Gewinne anstreben -und diese bisweilen sogar noch mehr. Wir wollen nicht einfach nur mehr, wir wollen mehr als die Anderen -manchmal auch dadurch, dass wir andere und uns zugleich runterziehen, solange wir sie dabei nur am Ende vergleichsweise überholt oder auch nur eingeholt haben. Es muss einem nur nachher vergleichsweise besser gehen als dem Anderen, dann hat man schon an Status gewonnen, selbst wenn man sich dabei zerstört.
Aber auch ausserhalb von diesen vergleichsweise rationalen Konfliktgründen, gibt es immer noch genug Missbilligung, Missgunst, Missfallen, Selbstsucht und Feindseligkeit um die Menschen dazu zu bringen sich gegenseitig zu bekämpfen auch wenn sie nicht mal die Aussicht auf einen relativen Gewinn dabei haben. Schließlich bilden wir uns ständig ein Bild und damit auch ein Urteil von unseren Menschen (wir können ja gar nicht anders). Und das erfordert qualitative Unterscheidungen zwischen besser und schlechter und muss dadurch dazu führen, dass durch diesen Vergleich immer irgendjemand schlechter dasteht und von uns entsprechend mit negativen Gefühlen belegt wird. Und was mit negativen Gefühlen belegt ist, wird nicht nur abgewertet sondern tendentiell auch als stören empfunden.
Unabhängig von unserem reinen Urteil über andere wird unsere Bewertung dazu noch durch unser emotionales Eigeninteresse und bei diesem v.a. durch unser Bestreben unseren Selbstwert und alles was mit ihm verbunden ist (und was ist das nicht?) zu wahren motiviert. Hier haben wir ebenfalls viele Gründe andere als schlecht zu bewerten, solange sie uns nur unangenehm werden. Vielleicht ist der Andere nicht so wie wir ihn haben wollen, vielleicht ist er uns nicht gut genug, vielleicht ist er uns aber auch zu gut, vielleicht stört er unser Weltbild, vielleicht stört er unser Selbstbild, vielleicht war er aber auch einfach nur zur falschem Zeit am falschen Ort und musste als Blitzableiter für unsere schlechte Stimmung und unsere negativen Gefühle herhalten.
Es wird so zu einer Angelegenheit von Überzeugung durch Urteil sowie emotionalem Interesse gegen das so entstandene Schlechte vorzugehen -unabhängig davon wie schlecht es tatsächlich für uns ist. Ursächlich ist dabei oft eines: unsere Neigung zum Vergleich. Das wir Vergleichen und Urteilen ist dabei im Leben allgemein notwendig und unvermeidlich.
Entscheidend für unsere Urteile und damit für Konflikt ist es jedoch, was womit verglichen wird und nach welchen Maßstäben dies geschieht. Hier lassen sich tatsächlich jede Menge unnötige Konflikte -und die emotionale Belastung die mit ihnen einhergeht- durch genügend Umsicht und Weitsicht vermeiden.
Da der Konflikt unter den Menschen also rational und emotional geradezu vorprogrammiert ist, wird er sich wie so vieles in der Natur und im Menschen immer einen Weg bahnen, sollte ihm dieser verwehrt werden.
Wo man sich nicht mehr schlagen darf, da beleidigt man sich, aber wo man sich nicht einmal mehr beleidigen darf, da bringt man Aggression zur Wirkung, ohne sie dabei direkt zum Ausdruck zu bringen. Anstatt von Steinen wirft man sich dann Lügen, Unterstellungen und Verleumdungen an den Kopf und anstatt Missfallen direkt gegenüber anderen zum Ausdruck zu bringen bringt man es indirekt hinter ihnen zur Wirkung.
Unter dieser Perspektive entpuppt, sich das moderne Selbstverständnis die Barbarei überwunden zu haben als eine illusionäre Halbwahrheit. Wir mögen es geschafft haben Gewalt und Aggression auf der körperlichen und direkten Ebene unterdrückt zu haben, haben sie aber dafür auf die psychosoziale Ebene und in indirekte Formen gedrängt und ihr durch unseren Hochmut und unsere Ignoranz zugleich dafür den Weg geebnet.
Die Probleme unserer Zeit sind somit nicht mehr grosse Kriege und offen brutale Schreckensherrschaften, sondern ein allgemeines Klima der Verstellung, der Heuchelei und der Prätention, welches die Wahrung des „guten“ (also friedlichen) Scheins unser Taten vor ihrer tatsächlichen Auswirkung betont. Es ist auf dem Nährboden dieses Klimas, wo das Schlechte nun in neuer Form im Schatten unseres Selbstverständnisses als friedfertige und zivilisierte Menschen in Form von Intrigen, Korruption, Unterwanderung und Perversion und sonstigen Formen verhohlener Schadhaftigkeit heranwuchert. Und nicht nur das: Wie jede Scheinheiligkeit, so schadet auch diese dem Guten in dessen Gewand sie sich tarnt genauso wie sie es durch das Schlechte das sie damit verbirgt tut.
Besser wäre es also wir würden zu den dunklen Seiten unseres Daseins offener stehen und lernen, dass wir deren Existenz akzeptieren können ohne sie bejahen zu müssen. Und wenn wir das tun, erkennen wir dass es klüger ist sie zu kanalisieren anstatt sie zu unterdrücken, genauso wie ein Fluss sich nicht einfach aufstauen lässt und seine Kraft für uns genauso nutzbringend wie zerstörerisch entfalten kann, sofern wir mit ihm nur richtig umzugehen wissen.